Das Vaterunser — ein Ringen darum, zuallererst nach dem Reich Gottes und seiner Gerechtigkeit zu trachten

„Lehre uns beten!“ Mit dieser Bitte sind die Jünger zu Jesus gekommen. Und er lehrte sie das Vaterunser. Fragt heute jemand: „Lehre mich beten”, würden wir ihm oder ihr wahrscheinlich beibringen, gemäß dem Akronym ABBA zu beten:
A für Anbeten, B für Bekennen, B für Bedanken, A für Anliegen. 

In gewisser Weise enthält dieses ABBA-Gebet auch tatsächlich all die Elemente und Anliegen, die das Vaterunser — und somit das Gebet, das Jesus uns gelehrt hat — enthält. Jedoch macht uns vielleicht ein Detail in der Reihenfolge der beiden Gebete stutzig: Im Vaterunser folgt das Bekennen von Sünden („Vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern“) auf das Gebet für Anliegen („Unser tägliches Brot gib uns heute“). Im Gebet, das dem Akronym ABBA folgt, folgt das Beten für „Anliegen” hingegen auf das „Bekennen” und „Bedanken”.

Tatsächlich ist die Logik, dass wir erst unsere Sünden bekennen, bevor wir unsere Anliegen vor den Herrn bringen, nachvollziehbar. Im Alten Testament waren  der rituelle Dank und die Bitte ja auch häufig mit einem Opfer (und somit mit Sühnung) verbunden. Die Menschen kamen mit dem Bewusstsein über die  Notwendigkeit von Sühnung und Reinigung in die Gegenwart Gottes. 

Das bringt also die Frage auf, warum Jesus uns im Vaterunser lehrt, unsere Anliegen vor den Herrn zu bringen, bevor wir ihn dann bitten, uns unsere Sünden zu vergeben. Ganz grundlegend können wir sicherlich zuerst einmal John Stotts Beobachtung zustimmen, dass Sündenbekenntnis — genauso wie auch die Bitte um Bewahrung vor der Versuchung — in die Rubrik „Anliegen“ eingeordnet werden kann: 

„Somit sind die drei Bitten, die Jesus uns in den Mund legt, wunderschön allumfassend. Sie decken im Prinzip alle unsere menschlichen Bedürfnisse ab — materielle (tägliches Brot), geistliche (Vergebung der Sünden) und moralische (Befreiung vom Bösen). Was wir tun, wenn wir dieses Gebet beten, ist, unsere Abhängigkeit von Gott in jedem Bereich unseres menschlichen Lebens zum Ausdruck zu bringen.“

John Stott, The message of the Sermon on the mount (Matthew 5-7). Leicester: InterVarsity Press. (1985). S. 150–151; kursiv ergänzt.

Auch wenn Stotts Zusammenfassung hilfreich ist, muss es doch noch einen weiteren Grund dafür geben, warum im Vaterunser überraschenderweise das Sündenbekenntnis auf die Bitte für das „tägliche Brot“ (Rubrik „Anliegen“) folgt. Wer sich den Aufbau der Bergpredigt und die Abschnitte, die auf das Vaterunser folgen, genauer anschaut, findet wohl den eigentlichen Grund für die Reihenfolge.

  
Matthäus berichtet direkt im Anschluss an das Vaterunser über Ereignisse, die in Lukas’ Evangelium unabhängig von der Bergpredigt genannt werden. Lukas und Matthäus verfolgen demnach vermutlich unterschiedliche Ziele mit der Aufnahme —und vor allem der Art der Aufnahme —der Bergpredigt (bei Lukas ist es die „Feldrede”). Was waren die Beweggründe für die unterschiedliche Darstellung von den Worten, die Jesus sicherlich nicht nur an einer Stelle in seinem Leben gelehrt und verkündigt hat? Um es auf den Punkt zu bringen, würde ich vorschlagen: Am Aufbau der Bergpredigt ist erkennbar, dass Matthäus herausstreichen will, wie Jesus seinen Jüngern das Vaterunser als ein Gebet gelehrt hat, in dem sie ihr Ringen zum Ausdruck bringen, vor allem anderen nach dem Reich Gottes zu trachten (vgl. 6, 33). Somit sind dann im Vaterunser die Bitte um das tägliche Brot und die Bitte um Vergebung der Schuld ein Ringen mit Versuchungen, die uns ansonsten davon abhalten würden, das Reich Gottes an allererste Stelle zu setzen. Diese These als Erklärung für die Reihenfolge der einzelnen Bitten im Vaterunser soll im Rest dieses Artikels begründet und erläutert werden. 


Das Vaterunser ist Teil von Jesu Warnung vor Heuchelei beim Almosengeben, Beten und Fasten (Mt 6,1-18). Auf diesen Abschnitt der Warnung und des Tadels folgt dann ein Abschnitt über den Umgang mit materiellen Dingen und  dem Sorgen um diese  (Mt 6,19-34). Dieser Abschnitt über das Sorgen wiederum weist interessante Parallelen zum Vaterunser auf— ja, führt in gewisser Weise sogar die Bitten des Vaterunsers weiter aus, wie wir gleich sehen werden. 

Der Abschnitt beginnt mit der Aufforderung, sich „nicht Schätze auf Erden“ (6,19) sondern „Schätze im Himmel“ (6,20) zu sammeln. Dieser Gegensatz zwischen „Schätze auf Erden . . . und im Himmel“ spiegelt sich auch in dem Zusatz zur dritten Bitte im Vaterunser wieder: „Dein Wille geschehe, wie im Himmel so auf Erden“ (6,10). Es ist interessant, an dieser Stelle anzumerken, dass bei Lukas, der Jesu Lehren des  Vaterunsers unabhängig von der Bergpredigt (bzw. Feldrede) schildert, diese dritte Bitte „Dein Wille geschehe, wie im Himmel so auf Erden“  ganz wegfällt (siehe Lk 11,2). 

Gleichermaßen verstärken die zwei darauffolgenden Abschnitte im MtEv noch einmal den Bezug auf die zweite und dritte Bitte des Vaterunsers („Dein Reich komme, dein Wille geschehe“): erst die Aufforderung zur Einfalt („Wenn nun dein Auge lauter ist, so wird dein ganzer Leib licht sein“; 6, 22ff.) als Ausführung zu „dein Reich komme” und dann die Aussage über die Unmöglichkeit, zwei Herren zu dienen („Niemand kann zwei Herren dienen“; 6,24ff.) als Ausführung zu  „dein Wille geschehe”. Somit können wir schlussfolgern, führt Mt 6,19-24 die ersten drei Bitten des Vaterunsers weiter aus („1. Geheiligt werde dein Name. 2. Dein Reich komme. 3. Dein Wille geschehe, wie im Himmel, so auch auf Erden“). 

Gleicherweise thematisiert Mt 6,25-34, wo Jesus sich unnötiges Sorgen Machen anspricht, desweiteren die vierte und zentrale Bitte des Vaterunsers: „Gib uns heute unser tägliches Brot“. Im Grunde genommen führen diese zehn Verse (V. 25-34) die Aufforderung „Sorget euch nicht um euer Leben“ (V. 25a) weiter aus —ein Appell, der auch an anderen Stellen in der Bibel mit der Einladung, seine Sorgen auf den Herrn zu werfen, Anklang findet (vgl. Ps 55,23; 1. Ptr 5,7). Somit können wir angesichts des Aufbaus der weiteren Ausführungen, die auf das Vaterunser folgen, die vierte Bitte („Gib uns heute unser tägliches Brot“) als eine Formel verstehen, mit der der Beter seine Sorgen auf den Herrn wirft. 

Der Abschnitt über das unnütze Sorgen (6,25-34) endet dann mit der bekannten Aufforderung: „Trachtet vielmehr zuerst nach dem Reich Gottes und nach seiner Gerechtigkeit, so wird euch dies alles hinzugefügt werden! Darum sollt ihr euch nicht sorgen um den morgigen Tag; denn der morgige Tag wird für das Seine sorgen. Jedem Tag genügt seine eigene Plage“ (V. 33–34). Auch im LkEv erscheint diese Aufforderung (12,31). Sie erscheint dort jedoch nicht nur in leicht abgeänderter Form, sondern auch—zusammen mit der  gesamten Abhandlung über das unnütze Sorgen (12,22-34)— statt als Teil der Bergpredigt (bzw. Feldrede) als Weiterführung des Gleichnisses vom reichen Narren (vgl. 12,13-21). 

Schon auf den ersten Blick fallen zwei kleinere aber bedeutende Unterschiede auf. Im LkEv heißt es: „Trachtet vielmehr nach dem Reich Gottes, so wird euch dies alles hinzugefügt werden!“ (Lk 12,31.). Erstens wird  in der Version von Matthäus das Trachten „nach dem Reich“ noch durch das Trachten „nach seiner Gerechtigkeit“ ergänzt und zweitens fügt Matthäus noch ein „zuerst“ in den Satz „Trachtet vielmehr zuerst nach dem Reich Gottes und nach seiner Gerechtigkeit“ ein. Das „zuerst“ bei Matthäus betont somit noch einmal den Vorrang der zweiten und dritten Bitte des Vaterunsers („Dein Reich komme, Dein Wille geschehe“ parallel zu „Trachtet vielmehr zuerst nach dem Reich Gottes“) vor der vierten Bitte („Gib uns heute unser tägliches Brot“ parallel zu „so wird euch dies alles hinzugefügt werden“). Jesus lehrt hier also seine Jünger, dass ihre  Sorge um das „tägliche Brot“ nicht die Sorge um Gottes Reich und Willen in ihrem Leben übertrumpfen soll. Dass Matthäus in 6,33 auch noch „nach seiner Gerechtigkeit“ ergänzt, gliedert  die Bedeutung dieses Verses in den weiteren Kontext der Bergpredigt ein, in der das Konzept „Gerechtigkeit“ ja eine zentrale Rolle spielt (vgl. 5,17. 20; 7,12). 

Bislang haben wir also gesehen, dass die Abschnitte der Bergpredigt, die auf Jesu Anweisungen über das Almosengeben, Beten (inkl. Vaterunser) und Fasten (Mt 6,1-18) folgen, die einzelnen Bitten des Vaterunsers aufgreifen und vertiefen (6,19ff.). Jesu Ausführungen über das „Schätze Sammeln auf Erden und im Himmel” (Mt 6,19-24) greifen die ersten drei Bitten des Vaterunsers auf („1. Geheiligt werde dein Name; 2. Dein Reich komme; 3. Dein Wille geschehe, wie im Himmel, so auch auf Erden“; 6,9-10) und seine Sprüche über das „unnötige Sorgen” (6,25-34) greifen die vierte Bitte auf („4. Gib uns heute unser tägliches Brot“; 6,11). Das wirft die Frage auf, ob Jesu „Warnung vor dem Richten” (7,1-5) und sein Spruch über die „Entweihung des Heiligen” (7,6) vielleicht auch in irgendeiner Hinsicht die (zwei noch verbleibenden) Bitten des Vaterunsers aufgreifen? 

Hier ist die Beobachtung interessant, dass wir eine Art Rahmung—ein sogenanntes Inclusio—in der Bergpredigt vorfinden. Durch ein Inclusio wird ein Text, der als eine Einheit betrachtet werden soll, vom Verfasser durch eine wiederholte Formel oder durch die Wiederholung von Wörtern „umrahmt”. In diesem Falle ist es das Wort „bitten” (gr. aiteo), das sechsmal im weiteren Zusammenhang des Vaterunsers erscheint (insgesamt siebenmal in der Bergpredigt) und das den Abschnitt Mt 6,8-7,11 rahmt. 

In 6,8 leitet Jesus mit dem Satz „Denn euer Vater weiß, was ihr benötigt, ehe ihr ihn bittet” vom Tadel übers unlautere Beten zum Vaterunser über. In 7, 7-11 greift Jesus das Wort „bitten“ dann in seiner „Ermutigung zum Gebet” wieder auf und erwähnt es allein hier noch fünf weitere Male. Mit dieser Rahmung (6, 8; 7, 7-11) deutet Matthäus an, dass 6,8-7,11 als Einheit gelesen und verstanden werden soll. Angesichts dieser bewussten Rahmung stellt sich somit doppelt die Frage, ob es einen Zusammenhang zwischen Jesu „Warnung vor dem Richten” (7,1-5) und seiner Warnung vor der „Entweihung des Heiligen” (7,6) und dem Vaterunser gibt, wie es auch einen Zusammenhang der vorhergehenden Verse (6,19-34) zu den ersten Bitten des Vaterunsers gab? 

Der Neutestamentler Günther Bornkamm, von dem auch einiges der bisherigen Argumentation stammt, meint tatsächlich, eine Verbindung zwischen der „Warnung vor dem Richten“ (7,1-5) und der fünften Bitte im Vaterunser („Und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern“ (6,12; vgl. 6,15)) zu sehen: 

„Innerhalb des Abschnittes B der Bergpredigt sind die Sprüche vom Richten 7.1-5 die einzigen, die in der [Iukanischen] Feldrede 6.37-42 eine Parallele haben, dienen jedoch nicht wie dort dazu, das Gebot der Feindesliebe Lk 6.26ff./ Mt 5.43ff. und insbesondere die Forderung der Barmherzigkeit Lk 6.31 zu erläutern, sondern folgen erst jetzt nach den Sprüchen vom Schätzesammeln und Sorgen, offensichtlich ohne speziellen Zusammenhang mit diesen. Läßt sich für diese Umstellung ein plausibler Grund erkennen? M. E. ist diese Frage zu bejahen, dann nämlich, wenn man sie in Entsprechung zu den vorangehenden Spruchreihen zu den Bitten des Vaterunsers, und zwar jetzt zur fünften Bitte in Beziehung setzt: ‚Und vergib uns unsere Schulden, wie auch wir vergeben haben unseren Schuldnern‘. Zwar berührt sich 7.1ff. terminologisch weder mit der Bitte selbst noch mit dem sie erläuternden Spruch 6.15. Umso deutlicher aber ist der inhaltliche Zusammenhang: hier wie da wird der den Bruder Verurteilende bzw. ihm die Vergebung Verweigernde auf seine eigene Schuld verwiesen und auf die Konsequenzen seines Verhaltens vor dem Gericht Gottes: ‚ . . . wird auch euer Vater eure Übertretungen nicht vergeben‘ (6. 15)‚ . . . damit ihr nicht gerichtet werdet‘ usw (7.1f.).“

(Günther Bornkamm, “Der Aufbau der Bergpredigt”, New Testament Studies 24/4 (1978): 427f.) 

Bornkamm sieht also eine interessante Parallele zwischen der Warnung, „den Splitter im Auge deines Bruders“ zu sehen  (Verurteilen und Vergebung verweigern) — gleichzeitig aber nicht den „Balken im eigenen Auge“ zu bemerken (7,3f.) — und der fünften Bitte des Vaterunsers („und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern” (6,12)). Wie Jesus in der Bergpredigt argumentiert, steht diese Vergebung Gottes im Zusammenhang mit der Bereitschaft, auch anderen zu vergeben (6,15), was auch in den Sprüchen vom Richten in 7,2 zum Ausdruck kommt: „Denn mit demselben Gericht, mit dem ihr richtet, werdet ihr gerichtet werden“. 

Somit scheinen also 6,25-7,5 bisher den ersten fünf Bitten des Vaterunsers („Geheiligt werde dein Name“ bis „und vergib uns unsere Schuld“) gefolgt zu sein. Bleibt noch die Frage nach dem Zusammenhang zwischen der sechsten Bitte „und führe uns nicht in Versuchung sondern erlöse uns von dem Bösen“ (6,13a) und Jesu Ausführung über „Hunde“, „Schweine“ und das „Heilige“, die dann noch in 7,6 folgt. Auch hier macht Bornkamm wieder eine interessante Beobachtung: 

„Vielmehr ist der Spruch ein striktes Verbot, das den Jüngern anvertraute ‚Heilige‘ an ‚Unwürdige‘ zu vergeuden. Dann aber kann to agiov [‚das Heilige’] im Zusammenhang der [matthäischen] Bergpredigt nur ein zusammenfassender Ausdruck sein für alles, was in ihr und zumal im Vaterunser den Jüngern anvertraut worden ist. Dieses Heilige zu hüten und unverletzt zu bewahren, werden sie aufgerufen. Andernfalls wird das Verderben über sie hereinbrechen. Im Mt-Text ist der Spruch dann nicht wesentlich anders gemeint als das auf die Seligpreisungen folgende Drohwort, daß das fade gewordene Salz nur noch dazu taugt, weggeworfen und von den Leuten zertreten zu werden (5. 13b). Beide halten den Jüngern in einem drastischen Bildwort die erschreckende Konsequenz einer Verleugnung ihres Auftrages vor Augen und verdeutlichen ihnen, was für sie selbst auf dem Spiel steht. Das besagt speziell im Blick auf Kap. 7: Der letzte Spruch der mt Vaterunser-Kommentierung soll sie beispielhaft erkennen lassen, welche ‚Versuchung‘ ihnen droht und welchem ‚Bösen‘ es zu entgehen gilt.“

(Bornkamm, 429.) 

Die Parallele zwischen dem Heiligen, das sie „mit ihren Füßen zertreten“ (7,6) und dem Salz, das hinausgeworfen und „von den Leuten zertreten wird“ (5,13) ist insofern interessant, als dass im MtEv nur in diesen beiden Versen das gr. Wort für „zertreten“ (katapateo) erscheint. Es ist also sehr gut möglich, dass die Aufforderung, „das Heilige nicht den Hunden […] und eure Perlen nicht vor die Säue” zu werfen (7,16) die sechste Bitte des Vaterunsers („und führe uns nicht in Versuchung sondern erlöse uns von dem Bösen“ (6,13a)) aufgreifen soll, auch wenn das auf den ersten Blick vielleicht nicht gleich ersichtlich ist. Natürlich gäbe es für diesen letzten Vers auch ganz andere Auslegungsmöglichkeiten.  


Das Vater Unser
6,8 Darum sollt ihr ihnen nicht gleichen! Denn euer Vater weiß, was ihr benötigt, ehe ihr ihn bittet. 9 Deshalb sollt ihr auf diese Weise beten;vgl. 7, 7-11 und die Rahmung (Inklusio) durch den Begriff „bitten” 
6,9bUnser Vater der du bist im Himmel! Geheiligt werde dein Name. 10 Dein Reich komme. Dein Wille geschehe wie im Himmel so auch auf Erden.6, 19 Ihr sollt euch nicht Schätze sammeln auf Erden, wo die Motten und der Rost sie fressen und wo die Diebe nachgraben und stehlen. 20 Sammelt euch vielmehr Schätze im Himmel, wo weder die Motten noch der Rost sie fressen und wo die Diebe nicht nachgraben und stehlen! 21 Denn wo euer Schatz ist, da wird auch euer Herz sein. 22 Das Auge ist die Leuchte des Leibes. Wenn nun dein Auge lauter ist, so wird dein ganzer Leib licht sein. 23 Wenn aber dein Auge verdorben ist, so wird dein ganzer Leib finster sein. Wenn nun das Licht in dir Finsternis ist, wie groß wird dann die Finsternis sein! 24 Niemand kann zwei Herren dienen, denn entweder wird er den einen hassen und den anderen lieben, oder er wird dem einen anhängen und den anderen verachten. Ihr könnt nicht Gott dienen und dem Mammon! 
6,11 Gib uns heute unser tägliches Brot.6, 25 Darum sage ich euch: Sorgt euch nicht um euer Leben, was ihr essen und was ihr trinken sollt, noch um euren Leib, was ihr anziehen sollt! Ist nicht das Leben mehr als die Speise und der Leib mehr als die Kleidung? 26 Seht die Vögel des Himmels an: Sie säen nicht und ernten nicht, sie sammeln auch nicht in die Scheunen, und euer himmlischer Vater ernährt sie doch. Seid ihr nicht viel mehr wert als sie? 27 Wer aber von euch kann durch sein Sorgen zu seiner Lebenslänge eine einzige Elle hinzusetzen? 28 Und warum sorgt ihr euch um die Kleidung? Betrachtet die Lilien des Feldes, wie sie wachsen! Sie mühen sich nicht und spinnen nicht; 29 ich sage euch aber, daß auch Salomo in all seiner Herrlichkeit nicht gekleidet gewesen ist wie eine von ihnen. 30 Wenn nun Gott das Gras des Feldes, das heute steht und morgen in den Ofen geworfen wird, so kleidet, wird er das nicht viel mehr euch tun, ihr Kleingläubigen? 31 Darum sollt ihr nicht sorgen und sagen: Was werden wir essen?, oder: Was werden wir trinken?, oder: Womit werden wir uns kleiden? 32 Denn nach allen diesen Dingen trachten die Heiden, aber euer himmlischer Vater weiß, daß ihr das alles benötigt. 33 Trachtet vielmehr zuerst nach dem Reich Gottes und nach seiner Gerechtigkeit, so wird euch dies alles hinzugefügt werden! 34 Darum sollt ihr euch nicht sorgen um den morgigen Tag; denn der morgige Tag wird für das Seine sorgen. Jedem Tag genügt seine eigene Plage. 
6,12 Und vergib uns unsere Schulden, wie auch wir vergeben unseren Schuldnern.7,1 Richtet nicht, damit ihr nicht gerichtet werdet! 2 Denn mit demselben Gericht, mit dem ihr richtet, werdet ihr gerichtet werden; und mit demselben Maß, mit dem ihr [anderen] zumeßt, wird auch euch zugemessen werden. 3 Was siehst du aber den Splitter im Auge deines Bruders, und den Balken in deinem Auge bemerkst du nicht? 4 Oder wie kannst du zu deinem Bruder sagen: Halt, ich will den Splitter aus deinem Auge ziehen! — und siehe, der Balken ist in deinem Auge? 5 Du Heuchler, zieh zuerst den Balken aus deinem Auge, und dann wirst du klar sehen, um den Splitter aus dem Auge deines Bruders zu ziehen! 
6,13 Und führe uns nicht in Versuchung, sondern errette uns von dem Bösen7,6 Gebt das Heilige nicht den Hunden und werft eure Perlen nicht vor die Säue, damit diese sie nicht mit ihren Füßen zertreten und [jene] sich nicht umwenden und euch zerreißen. 
vgl. 6, 8-9 (Rahmung)7, 7 Bittet, so wird euch gegeben; sucht, so werdet ihr finden; klopft an, so wird euch aufgetan! 8 Denn jeder, der bittet, empfängt; und wer sucht, der findet; und wer anklopft, dem wird aufgetan. 9 Oder ist unter euch ein Mensch, der, wenn sein Sohn ihn um Brot bittet, ihm einen Stein gibt, 10 und, wenn er um einen Fisch bittet, ihm eine Schlange gibt? 11 Wenn nun ihr, die ihr böse seid, euren Kindern gute Gaben zu geben versteht, wieviel mehr wird euer Vater im Himmel denen Gutes geben, die ihn bitten! 

Die Suche nach einer Antwort darauf, warum im Vaterunser überraschender-weise das Sündenbekenntnis auf die Bitte für das „tägliche Brot“ („Anliegen“) folgt—und nicht andersherum—, hat uns also auf eine interessante Beobachtung aufmerksam gemacht, ohne dabei unbedingt die eigentliche Frage zu beantworten: Die vierte („Gib uns unser tägliches Brot“), fünfte („und vergib uns unsere Schuld“) und sechste („und führe uns nicht in Versuchung“) Bitte des Vaterunsers sind in gewisser Weise unterschiedliche Facetten vom „Trachten nach Gottes Reich und seiner Gerechtigkeit“ vor allen anderen Dingen auf Erden (vgl. das „zuerst“ in 6,33). 

Das Vaterunser ist ein Gebet, das die unterschiedlichen Herausforderungen aufgreift, mit denen sich jeder Jünger Jesu konfrontiert sieht: die nagenden Sorgen des täglichen Lebens, Beziehungskonflikte und die Versuchung, das „Heilige“, das Jesus seinen Nachfolgern in seinen Lehren anvertraut hat, zu missachten, zu verleugnen oder zu entheiligen und so das Zeugnis vor der Welt zu verlieren  („Licht“ und „Salz“; vgl. 5,13ff.). Das Vaterunser ist somit ein Gebet, in dem wir darum ringen, „zuerst nach dem Reich Gottes und seiner Gerechtigkeit“ zu trachten. Es ist ein Gebet, in dem wir uns in diesem Ringen ganz von Gott abhängig machen. 

Angesichts der vorhergehenden Beobachtungen können wir nun die einzelnen Bitten im Vaterunser vielleicht wie folgt weiter ausführen: 

“Unser Vater, der du bist im Himmel!” 

1. „Geheiligt werde dein Name.” 

Wenn wir nun unsere Bitten vor dich bringen, so ist es ein Ringen darum, dass du geheiligt wirst, und zwar dadurch, dass die heilige und kostbare Lehre, die dein Sohn uns in der Bergpredigt gelehrt hat, heilig gehalten wird und Form in unserem Leben annimmt.

2. „Dein Reich komme.” 

Über allem und vor allem anderen wollen wir nach deinem Reich und nach deiner Gerechtigkeit trachten.

3. „Dein Wille geschehe, wie im Himmel, so auch auf Erden.” 

Wir bitten dich, richte unseren Blick darauf, Schätze im Himmel zu sammeln, und bewahre uns vor der Versuchung, den Schätzen auf Erden zu verfallen. Du, und nicht das Materielle, sollst unser Herr sein. Deinen Willen, und nicht den Willen des Geldes, suchen wir. 

4. „Gib uns heute unser tägliches Brot.” 

Sorge du für unser Leben, auf dass die Sorge um unser Leben uns nicht davon abhält, zuerst nach deinem Reich und nach deiner Gerechtigkeit zu trachten. Du sorgst für uns! Möge diese Zuversicht uns dazu befreien, nach deinem Reich, deinem Willen und deiner Gerechtigkeit zu trachten. 

5. „Und vergib uns unsere Schulden, wie auch wir vergeben unseren Schuldnern.” 

Genauso wie wir versucht sind, uns von den Sorgen um das tägliche Leben abhalten zu lassen, dein Reich und deinen Willen zu verfolgen, können uns auch zwischenmenschliche Probleme hindern. Mach uns bei aller Kritik an anderen zuerst den Balken in unserem eigenen Auge bewusst, bevor wir den Splitter in den Augen unseres Nächsten sehen. Mögen wir uns bewusst werden, dass wir ganz von deiner Vergebung abhängig sind, auf dass wir auch bereit sind, unserem Nächsten seine Vergehen zu vergeben, statt seine Vergehen zwischen uns und ihm und zwischen uns und dem Trachten nach deinem Reich kommen zu lassen. 

6. „Und führe uns nicht in Versuchung, sondern errette uns von dem Bösen.”

Neben den Versuchungen, uns durch die Sorgen der Welt und die Verletzungen durch unsere Nächsten davon abhalten zu lassen, zuerst nach deinem Reich und deiner Gerechtigkeit zu trachten, ist es auch die Versuchung, das „Heilige“, das Jesus uns in seiner Lehre anvertraut hat, zu missachten, zu verleugnen und zu entheiligen. Bewahre uns davor, dass unser Zeugnis und unsere Berufung „Licht“ und „Salz“ vor der Welt zu sein, durch unsere Fahrlässigkeit vergeudet wird. 

7.  “Denn dein ist das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit in Ewigkeit! Amen.”


Unsere anfängliche Frage, warum im Vaterunser überraschenderweise das Sündenbekenntnis auf die Bitte für das „tägliche Brot“ („Anliegen“) folgt—und nicht andersherum—hat uns somit tiefer in die Bergpredigt geführt. Unsere Frage hat uns zu dem Schluss geführt, dass es Jesus im Vaterunser nicht in erster Linie darum geht, uns ein Gebet zu lehren, das der Logik—basierend auf dem Gottesdienst im Alten Testament—folgt, dass wir erst unsere Anliegen vor Gott bringen können, wenn wir unsere Sünde und das, was uns von dem gütigen Gott trennt, bekannt und in Ordnung gebracht haben. 

Vielmehr ist die Bitte um „das tägliche Brot” und die Bitte um „Vergebung der Schuld” ein Ringen mit den Versuchungen, die uns davon abhalten würden, für das Reich Gottes zu leben—also das Leben zu leben, das Jesus ausführlich in der Bergpredigt beschrieben hat. Denn—wie wir gesehen haben—ist das Vaterunser letztendlich ein Ringen darum, zuerst nach dem Reich Gottes und nach seiner Gerechtigkeit zu trachten. Es ist das Ringen darum, nicht das Reich Gottes zu vernachlässigen—nicht durch die Sorgen der Welt, nicht durch zwischenmenschliche Konflikte und nicht durch  das Vernachlässigen der kostbaren Lehren Jesu. Das Vaterunser ist eine Bitte, dass das Reich Gottes in unserem Leben mehr und mehr Form annimmt und zwar in der Zuversicht, dass unser „Vater im Himmel denen Gutes geben [wird], die ihn bitten!” ( Mt 7,11).

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