Die Sehnsucht in der Ortsgemeinde, Gottes Wort zu hören

Der amerikanische Prediger Steven Lawson beschreibt in seinem Buch Der Standhafte Prediger Martin Luther (3L Verlag) den Erfolg des Reformators wie folgt:

„Luther wurde gefragt, wie er sich den steigenden Erfolg der Reformation erklärte. Er antwortete mit unerschütterlichem Vertrauen in das Wort Gottes: ‚Ich habe schlichtweg Gottes Wort gelehrt, gepredigt und aufgeschrieben; sonst habe ich nichts getan. Und während ich schlief, nahm das Wort beim Papsttum alle Macht, wie es noch kein Prinz oder Befehlshaber je zuvor geschafft hat. Ich tat also nichts; das Wort tat alles.‘ Die protestantische Bewegung basierte auf der Schrift allein und konnte nicht aufgehalten werden.“ (S. 36f.)

Solche Früchte durch den Verkündigungsdienst wünscht sich sicherlich jeder Prediger. Aber ist das auch der Wunsch der Gemeinden in unserem Land? Es könnte einiges darüber gesagt werden, was Predigten und Prediger ausmacht, die Gott gebraucht, um seine Gemeinde durch sein Wort zu erwecken (siehe z.B. diesen Blogartikel). Aber was erwarten sich die Gemeindegeschwister von der Verkündigung und dem gemeinsamen Wortstudium? Was ist die Einstellung unserer Gemeinden zur Predigt von Gottes Wort?

Im Alten Testament finden wir einen Text, der ein ganz ähnliches Phänomen beschreibt, wie das was Lawson anhand von Martin Luthers Wirken veranschaulicht. Nehemia 8 beschreibt eine Reformation und Erweckung, die ähnliche wie die protestantische Reformation ganz neue Horizonte und nachhaltige Veränderungen für das Volk Gottes herbeiführte—eine Reformation, die durch nichts anderes bewirkt wurde als die treue Auseinandersetzung mit und Verkündigung von Gottes Wort.

Was Nehemia in seiner Erzählung dieser Erweckung beschreibt ist ein Volk, das Gott beim Wort genommen hat und deshalb Erweckung erleben durfte! Das Volk war entschlossen, dass sie Gottes Wort hören wollten und mussten. Aus diesem Entschluss lassen sich auch für unsere Gemeinden heute mindestens fünf Anhaltspunkte ableiten, die uns helfen die Einstellung unserer Gemeinden zur Verkündigung und dem Hören von Gottes Wort zu überdenken.

(1) Einigkeit in dem Entschluss, Gottes Wort hören zu wollen

Nehemias Schilderung macht deutlich, dass das Volk Israel sich in dem Entschluss einig war, Gottes Wort hören zu wollen. Dabei war es nicht nur der Entschluss oder das Bedürfnis einiger weniger sondern der des ganzen Volkes. Ingesamt kommt in diesem Text die Aussage „das ganze Volk“ in Bezug auf das Hören auf Gottes Wort acht mal vor—plus zwei ähnliche Aussagen (V. 1. 3. 5. 6. 9. 11. 12. 13; vgl. V. 2. 17). In Vers 1 heisst es z.B., dass „das ganze Volk wie ein Mann“ auf dem Platz vor dem Wassertor in Jerusalem zusammenkam.

Es war 52 Tage her, dass die Stadtmauer fertiggestellt wurde. Nun nahte mit dem ersten Tag des siebten Monats das vom Gesetzt vorgeschriebene Posaunenfest, das einen ganz besonderen Festtag darstellen sollte. Interessanterweise schreibt das Gesetz (vgl. 3. Mo. 23, 24; 4. Mo. 10, 10) für diesen besonderen Ruhetag zwar bestimmte Festopfer und das besondere Gedenken an den HERRN unter Hörnerschall vor aber nicht das gemeinsame Lesen von Gottes Wort. Der Text lässt das Bringen dieser Opfer jedoch aus—und sogar auch die Schilderung des Hörnerspiels—betont aber den Wunsch des Volkes, an diesem Tag sich Gottes Wort zuzuwenden.

Was für ein interessanter Gedanke: Die Fertigstellung einer Mauer konnte kein Volk reformieren und erneuern, aber sehr wohl das Wort Gottes! Das wirft die Frage auf: Sind wir als Gemeinde uns bei all den Programmen und Angeboten einig, dass es die gründliche Auseinandersetzung mit Gottes Wort sein wird, die das entscheidende Wachstum und die ersehnte Erneuerung herbeiführen wird—mehr als alle anderen Bemühungen und Anstrengungen, die wir in der Gemeinde betreiben?

(2) Proaktivität in dem Entschluss, Gottes Wort verkündigt zu bekommen

Weiter schildert Nehemia in Vers 1: „Sie sprachen zu Ezra, dem Schriftgelehrten, dass er das Buch des Gesetzes Moses holen sollte”. Eigentlich stellt sich hier doch die interessante Frage, warum diese Initiative nicht von Ezra selbst kam? Wie Nehemia es darstellt, bot sich Ezra hier nicht einmal an, sondern das Volk suchte ihn auf und berief ihn dazu, ihnen Gottes Wort zu verkündigen. Ezra 7 erläutert hierzu, dass Ezra den Ruf unter dem Volk Gottes genoß, dass er ein Mann des Wortes war (V. 10). Deshalb kamen sie wohl jetzt zu ihm und baten ausgerechnet ihn, ihnen das Buch des Gesetzes zu bringen, daraus zu lesen und es ihnen auszulegen. Es war das Volk selbst („das ganze Volk wie ein Mann“), dass hier aktiv wurde.

In Vers 4 lesen wir dann von einer riesigen hölzernen Kanzel, die man zu dem Zweck der Wortverkündigung errichtet hatte. Wann wurde diese Kanzel wohl errichtet? Schon bevor das Volk an Ezra herantrat oder erst danach? Wir lesen nirgends im Text, dass die Kanzel jetzt noch schnell zusammengeschustert werden musste. Der Text setzt die Fertigstellung ganz einfach voraus.

Das Volk hatte für sich entschlossen, Gottes Wort hören zu wollen. Und in diesem Entschluss waren sie nicht nur proaktiv in dem Bau dieser großen Kanzel sondern auch in der Wahl eines passenden Verkündigers. Sie forderten nicht einfach irgendjemanden zur Auslegung von Gottes Wort auf, sondern Ezra! Ezra wurde bis zu diesem Punkt im Buch mit keinem Wort erwähnt. Aber er war es, der den Ruf hatte, ein guter Verkündiger zu sein. Er war wohl der Kompetenteste, der ihnen am Wort hätte dienen können. Und so beriefen sie ihn.

Dieses Bild der leerstehenden Kanzel, die darauf wartet von einem Bruder bestiegen zu werden, der fähig und kompetent ist, Gottes Wort in rechter Weise erklären und mit Vollmacht verkünden zu können, wirft so manche Fragen für unsere Gemeinden auf: Wie proaktiv ist die Gemeinde in ihrer Auswahl, Zurüstung und Förderung von kompetenten Predigern? Jede Gemeinde wünscht sich (hoffentlich), durch Gottes Wort erneuert zu werden, aber was tut sie dafür? Wie proaktiv sind wir, wenn es zu der Qualität des Wortstudiums in unseren Gemeinden kommt?

(3) Aufmerksamkeit in dem Entschluss, Gottes Wort hören und studieren zu wollen

In Vers 3 schildert Nehemia wie „die Ohren des ganzen Volkes auf das Buch des Gesetzes gerichtet” waren. Weil sie aufmerksam Gottes Wort zuhörten, konnte das Volk durch die Auslegung des Wortes durch Ezra (und die Leviten) zum vollen Verständnis des Wortes Gottes kommen.

Als Gemeinde gibt es so viele Dinge, denen wir unsere (volle) Aufmerksamkeit zuwenden können. Und so stellen sich angesichts dieser Schilderung von Nehemia die Fragen: Ist es das Wort Gottes, dem die Gemeinde ihre volle Aufmerksamkeit schenkt? Steht die Verkündigung und das Hören auf Gottes Wort an erster Stelle in den Zusammenkünften der Gemeinde? Oder haben andere Elemente des Gottesdienstes und Gemeindelebens den ersten Platz inne? Wird z.B. dem „Anbetungsteil“ in unseren Gottesdiensten eine viel entscheidendere Rolle und Platz zugewiesen als der Predigt und gründlichen Auseinandersetzung mit Gottes Wort? Wieviel Aufmerksamkeit wendet die Gemeinde dem gründlichen Studium des Wortes in Bibelstunden und Hauskreisen zu?

(4) Demut in dem Entschluss, Gottes Wort gehorchen zu wollen

Nehemia beschreibt eine demütige Haltung dem Wort und seiner Verkündigung gegenüber. Er schreibt „das Volk antwortete” (V. 6) und „verneigte sich und betete den HERRN an, das Angesicht zur Erde gewandt“ (V. 6). Das Volk war bereit sich aufgrund des gehörten Wortes zu ändern. Es war Teil ihrer Anbetung, dass sie dem Wort Gottes gehorsam sein wollten. Sie hatten Ezra gebeten, ihnen Gottes Wort auszulegen, in der Erwartung ein Wort vom HERRN zu hören. Und nun waren sie demütig entschlossen, diesem Wort des HERRN Folge zu leisten. Das Hören auf Gottes Wort war für sie kein blosses Ritual.

Mit welcher Einstellung gehen die Gottesdienstbesucher in unseren Gemeinden in den Gottesdienst? Erwarten sie ein Wort vom Herrn zu hören? Kommen sie mit der demütigen Haltung, ihr Leben auf das gehörte Wort Gottes auszurichten und ihm zu gehorchen?

(5) Hingabe in dem Entschluss, Gottes Wort sowohl ausgiebig als auch tief-schürfend hören und erforschen zu wollen

Nehemia macht in seiner Erzählung deutlich, dass das Volk Gottes Wort sowohl „extensiv“ als auch „intensiv“ erforschte. Bei dem Posaunenfest und dem wenige Tage darauf folgenden tagelangen Laubhüttenfest wurde Gottes Wort ausgiebig und tief-schürfend erforscht. Nehemia schildert, wie „Ezra, der Priester, das Gesetz vor die Gemeinde brachte, vor die Männer und Frauen und alle, die Verständnis hatten, um zuzuhören, am ersten Tag des siebten Monates“ (V. 2)—also am Tag des Posaunenfestes. Am zweiten Tag versammelten sich dann noch einmal die Familienoberhäupter, um weiter im Gesetz unterrichtet zu werden (V. 13). Später im Monat zur Zeit des Laubhüttenfestes wurde dann das Buch des Gesetzes für acht weitere Tage „Tag für Tag“ gelesen (V. 18). Wir sehen hier wie ausgiebig Gottes Wort gehört und erforscht wurde: Neun Tage lang—in anderen Worten ein gutes Drittel eines Monats! Und das nicht nur von den Familienhäuptern, die sich aus diesem Anlass noch einmal zu einem zusätzlichen Tag versammelt hatten, sondern von der ganzen Gemeinde—von „allen, die Verständnis hatten, um zuzuhören“ (V. 2).

Insbesondere die Zusammenkunft der Familienhäupter zeigt auf, dass das Volk Gottes Wort auch tief-schürfend hören und erforschen wollten (V. 13). Sie gaben sich nicht mit einer oberflächlichen Beschäftigung mit dem Wort Gottes zufrieden.

Das Volk Gottes erlebte zur Zeit Ezra und Nehemia eine wahre Erweckung—und das nicht zuletzt weil sie sich ausgiebig und tief-schürfend mit Gottes Wort auseinandersetzten. Kann das selbe von unseren Gemeinden gesagt werden? Über die Länge einer Predigt und auch das Niveau der Verkündigen lässt sich sicherlich diskutieren. Diese Aspekte der Predigt müssen an die Gemeinde angepasst werden. Aber nichts desto trotz wirft diese Erzählung Nehemias für unsere Gemeinden die Frage auf: Wie hingegeben ist die Gemeinde, um Gottes Wort sowohl „extensiv“ als auch „intensiv“ zu studieren?

Die Erweckung und Reformation, die Nehemia schildert, kam nicht von ungefähr. Nein, sie war die Frucht und das Ergebnis einer Sehnsucht, Bereitschaft und Entschlossenheit, Gottes Wort intensiv studieren und hören zu wollen. Wie verhält sich die Einstellung unserer Gemeinden zu der gründlichen Auseinandersetzung mit Gottes Wort im Vergleich zu dieser Schilderung im Buch Nehemia? Was sich in den Tagen Ezra und Nehemias–aber auch zur Zeit der Reformation–zugetragen hat, ist einfach wunderbar! Aber wieviel liegt uns als Gemeinde daran, das selbe auch in unseren Tagen erneut zu erleben?

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